Ich sage es ganz offen: Bei dem Gedanken an die Staaten China und Indien wird mir Angst und Bange. Sprach man 1995 noch selbstverständlich davon, dass die reichen Länder der ersten Welt, die ärmsten Länder der dritten Welt – also die Schwellen- und Entwicklungsländer – immer ärmer machten, so hat sich diese These quasi ins Negativ verkehrt. Wir alle kennen die Auswirkungen, die Offshoring und Outsourcing haben, wie die hiesigen Arbeitsplätze (vorrangig in der Industrie) verlagert bzw. vernichtet werden. Das ist nicht neu, oft nicht gern gesehen, aber in jedem Fall eine logische Konsequenz.
Niemand kann ernsthaft annehmen, dass einfache Industriearbeiten eine Zukunft in dem Hochlohnland Deutschland haben werden. Wir werden uns daran gewöhnen müssen, sukzessive die Industriearbeitsplätze an Osteuropa und China zu verlieren. Das ist ein eher natürlicher Lauf der Dinge und könnte womöglich durch zu schaffende Arbeit im tertiären Sektor oder neuen Branchen und sich bildenden Arbeitsprozessen aufgefangen werden.
Aber es verschwinden eben nicht nur einfache Tätigkeiten, sondern auch hochwissenschaftliche Ingenieursarbeiten, d.h. die Innovationen, die Planung und Entwicklung. Besieht man dies vor dem Hintergrund des derzeitigen verhältnismäßig kleinen Aufschwungs und des damit einhergehenden Fachkräftemangels, sollte man sich zu sorgen beginnen. Unternehmen, die in Deutschland keine Fachkräfte vorfinden, haben letztlich keine andere Wahl, als die Ingenieurs- und Entwicklungstätigkeiten in das Ausland zu verlagern.
Sprechen wir über die Zahlen. Deutschland bildet jedes Jahr ungefähr 37.000 Ingenieure aus, die im internationalen Vergleich eher mittelmäßig gebildet und motiviert sind, allerdings zu den teuersten in der Welt gehören. Indien bildet jährlich 400.000 Ingenieure aus, die einerseits hoch gebildet und motiviert sind und andererseits zu den günstigsten gut ausgebildeten Arbeitskräften weltweit gehören. Indische Angestellte arbeiten für zirka ein Zwanzigstel eines deutschen Ingenieurs.
Die Gewissheit, dass deutsche Arbeitnehmer um genau so viel produktiver sein müssen wie sie im internationalen Vergleich teurer sind, ist so alt wie die Steinkohle. Aber sie ist im Grunde richtig. Bloß: Wie kann ein deutscher Arbeiter die gleiche Produktivität von – nehmen wir das Beispiel von oben – zwanzig Indern erreichen? Ist das überhaupt möglich?
Ich sage: Nein.
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Wenn wir in Deutschland über Globalisierung sprechen, vergessen wir ganz oft, dass wir derzeit zu den Gewinnern dieses Vorgangs gehören. Als gefeierter Exportweltmeister nutzen wir die Warenstraßen in alle Welt um unsere hochspezialisierte und hochentwickelte Spitzentechnologie in alle Welt auszuführen. Vergessen wir in diesem Zusammenhang nicht die Nennung der Automobil- und der Maschinenbauindustrie.
Doch immer öfter hört man die Klagen der Industrie, dass zu wenig hochgebildete Fachkräfte unsere Universitäten verlassen, dass Auszubildende über ein immer schlechteres Vorwissen gerade in den Naturwissenschaften verfügen. Und genau da sollte Deutschland und die Politik ansetzen. Meiner Meinung nach ist der Neuaufbau des Bildungswesens die drängendste aller staatlichen Aufgaben, noch vor der Konsolidierung der Staatsfinanzen.
Selbstverständlich teilen diese Auffassung auch viele Politiker. In den unzähligen Sonntagsreden schwadronieren sie eloquent aber monophon über die Wichtigkeit der Bildung; oft schon drang die fast schon inhaltsleere Phrase des einzigen Rohstoffs Bildung an das Ohr derer, die wie ohnmächtig vor den Fernsehschirmen sitzen.
Dennoch: Deutschland verliert sich im Bereich der Bildung in absolute Kleinstaaterei. Seitdem das Schreckgespenst PISA durch die Kultusministerien der Länder wandelt, werden zwar allerorten Kommissionen einberufen und Delegierte zur Kultusministerkonferenz geschickt, verändert hat sich bislang jedoch nichts oder nicht viel.
Unser Bildungswesen ist vor allem im direkten Vergleich mit den anderen OECD-Ländern ineffizient, ungerecht und altmodisch. Es produziert viele Verlierer und nur wenige Gewinner. Es gibt auch Jahrzehnte nach Willy Brandt ein Bildungsprivileg. In keinem anderen Land der OECD hängt die soziale Herkunft mehr mit dem Bildungsniveau zusammen. Ohnehin per Geburt privilegierte, werden in dem Bildungssystem durchaus bevorzugt, was nicht zuletzt mit dem Dreigliedrigen Schulsystem zusammenhängt, dass einer Ideologie aus dem 19. Jahrhundert folgt.
Es gibt in den bildungspolitischen Debatten seit Jahren niemanden mehr, der allen Ernstes behauptet, in unseren Schulen herrsche Chancengleichheit. Vielmehr hat sich die Gerechtigkeitslage in den letzten fünfzehn Jahren so dramatisch verschlechtert, dass die Behauptung, in unserem Bildungssystem sei die Chancengleichheit verwirklicht, nicht einmal mehr Ideologie wäre, sondern bloß noch eine platte Lüge.
Die Gefühlsreaktionen der Bildungsschichten auf diese Sachlage schwanken je nach persönlichem Naturell und sozialer Stellung zwischen Bedauern, Gleichgültigkeit, Bangen um die eigenen Vorteile und unverstellter Rücksichtslosigkeit beim Durchsetzen von Privilegien. Manche dieser Gefühle sind vielleicht sympathischer als andere – allerdings fragt sich, was die Benachteiligten davon haben, wenn die Bevorzugten ihre Vorteile mit schlechtem Gewissen wahrnehmen. Menschlich ist das zwar nett, aber moralisch und politisch nicht von Belang, denn wenn es darauf ankommt, siegt im Konflikt zwischen Interesse und schlechtem Gewissen immer das Interesse.
Ja, das ist keine aufregende Erkenntnis, aber sie verdeutlicht die Fruchtlosigkeit einer Bildungsdiskussion, die in den Kategorien der Moral geführt wird, die Kategorien der Macht jedoch absichtsvoll verschweigt oder naiv übersieht. Bildungsfragen sind eben auch Machtfragen. Der alte Slogan „Wissen ist Macht“ ist nicht bloß ein antiquierter Aphorismus, sondern bitterer Ernst.
Deutschland ist in den letzten 15 bis 20 Jahren insgesamt von einer guten Position auf Platz 23 unter den 30 OECD-Staaten gefallen. Dabei ist auch hierzulande hinlänglich bekannt, dass aus Investitionen in Bildung sehr hohe Erträge resultieren.
Wenn wir über Bildung reden, darf allerdings nicht nur an die pure Vermittlung von Wissen gedacht werden, sondern zunehmend auch an die Lehre von Fertigkeiten und Methoden. Wir müssen von den skandinavischen Schulsystemen lernen und uns einen größeren Fleiß und gegenüber wirtschaftlichen Konkurrenten eine gewisse Rücksichtslosigkeit zulegen. Vor allem aber dürfen wir Innovationen nicht behindern und Wissenschaft nicht überflüssig begrenzen. Deutschland ist eben keine Insel, sondern Teil einer sich immer schneller verändernden Welt, in der Innovation als Resultat von Bildung eine sehr große, bislang oft unterschätzte Rolle spielt.
Daher brauchen wir in den Schlüsselbereichen der Bildungs- und Wirtschaftspolitik dringend eine große nachhaltige Kraftanstrengung und keine beruhigenden Festreden an den Exportweltmeister. Wir brauchen einen gewissen Bildungsenthusiasmus und den unbedingten Willen zum Erfolg.
Wenn Wissen Macht ist, wird es Deutschland nämlich spätestens mit dem Renteneintritt der sogenannten Babyboomer – der großen Kohorte geburtenstarker Jahrgänge der Nachkriegszeit, der einzigen Profiteure brandtscher Bildungspolitik – schwer haben. Unser derzeitiger Aufschwung ist zu großen Teilen ihres Wissens und ihrer Kreativität zu verdanken.
Unsere saturierte Gesellschaft hat es zugegebenermaßen sehr schwer. Aber wir müssen einen Schritt nach vorn wagen. Und zwar jetzt.